Schweben wie eine Königin
Über meine Fußsohle schabt ein scharfes Messer, an den Fingerspitzen zupft es und in meiner Nasenspitze kneift es so stark, dass mir die Tränen in die Augen schießen. „Wohlfühlpaket” nennt sich das von mir gebuchte Angebot der Überbetrieblichen Ausbildung im ipcenter, aber gerade bin ich nicht so sicher, ob ich mich nicht vielleicht verlesen habe. Ist das hier im 4. Stock der Breitenfurter Straße wirklich ein Übungssalon für angehende Kosmetiker:innen? Die blitzenden Instrumente aus Stahl neben weißen Liegen erinnern mich kurz an meine letzte zahnärztliche Behandlung, die nicht wirklich zum Wohlfühlen war. Doch hier sirrt nirgendwo ein Bohrer, sondern die Atmosphäre ist ruhig und friedlich.
Ob Kosmetiksalon oder zahnärztliche Ordination, gemeinsam ist beiden Behandlungen, dass in dem Moment, in dem man auf dem Behandlungsstuhl Platz nimmt, die Kontrolle abgegeben wird, in diesem Fall zusammen mit Brille und Schmuck. Auch Schuhe, Socken und Pullover muss ich ausziehen und soll mich anschließend zurücklegen. Was passiert jetzt? Da ich vorher noch nie in einem Kosmetikstudio war, habe ich keine Ahnung, wozu all die Instrumente mit ihren Schneiden und Spitzen da sind.
Die Instrumente und Desinfektionsmittel für die Fußbehandlungen liegen bereit.
“Das sieht ein bisschen so aus, als ob man für eine Operation vorbereitet wird”, kommentiert Carlos, Medienlehrling im ipcenter, nachdem ich mich hingelegt habe. Irgendwie klingt er nicht unfroh, dass er nicht in meiner Haut steckt, sondern nur für die Fotos hier ist. Saima zieht mir ein Haarband aus einer Art weißem Krepp über den Kopf. Werden nicht bei einem chirurgischen Eingriff
Hauben aus einem ähnlichen Material getragen? Meine Hände und Füße trifft ein kalter Sprühnebel. Nur ein Desinfektionsspray, erklärt mir eine der ganz in Weiß gekleideten jungen Frauen, die sich dünne Einmalhandschuhe angezogen und unter Aufsicht von Trainerin Renata Braun ihre Instrumente zurechtgelegt haben.
Carlos lässt seinen Fotoapparat klicken. Alle hier scheinen genau zu wissen, was sie zu tun haben. Auf mich wirken sie ein bisschen wie Regisseurin (Renata), Kameramann (Carlos) und Darstellerinnen (Saima, Marwa und Angelika) eines Science-Fiction-Films. Nur ich kenne das Drehbuch nicht. Was wird als Nächstes passieren? Da es momentan nicht nach einem Happy End aussieht, schließe ich nach einem letzten Blick auf Saima, die sich hinter meinen Kopf gestellt hat, lieber die Augen. Kühl und sahnig ist die Flüssigkeit, die sie jetzt auf mein Gesicht aufträgt. Nach einem Blick hat sie die Diagnose Mischhaut gestellt und daher eine Gurkenreinigungsmilch ausgewählt, wie ich auf Nachfrage erfahre.
Was Marwa mit meiner rechten Hand macht, nachdem die Finger eine Zeitlang in angenehm warmem Wasser gebadet haben, will ich lieber gar nicht so genau wissen, es ziept und drückt, aber nur ein bisschen. Sowohl meine linke Hand als auch meine beiden Füße baden jetzt in warmem Wasser, und angenehm warm ist auch die Kompresse, mit der die Gurkenreinigungsmilch von meinem Gesicht abgenommen wird. Dazu kommt von irgendwoher noch entspannende Musik, davon abgesehen ist es ruhig. “Heute ist Mittwoch, da sind die meisten Lehrlinge in der Berufsschule”, erklärt Trainerin Renata.
Eigentlich ganz schön, einfach nur liegen zu dürfen und nichts tun zu müssen. Jetzt, mit geschlossenen Augen, ohne Blick auf all die blitzenden Instrumente, fühle ich mich auf einmal wie eine Königin, die von einer Schar Hofdamen umsorgt wird. Egal, ob ein Skalpell über meine Fußsohle schabt oder mein Gesicht mit einem Jojobapeeling abgerubbelt wird, ich bin in guten Händen. Von meinen Füßen verschwindet die Hornhaut, vom Gesicht die Hautschüppchen und von den Fingern die Nagelhaut. Das Geräusch des Geräts, das warmen Dampf auf mein Gesicht bläst, um die Poren zu öffnen, ist irgendwie einschläfernd…
Habe ich etwas verpasst? Saima tupft meine Gesichtshaut mit Kosmetiktüchern trocken. Und dann spüre ich unsanft etwas, das sie “Ausreinigen” nennt und das mich in Sekundenschnelle wieder munter macht. Bisher habe ich nicht gewusst, wie empfindlich meine Nasenspitze ist, aber glücklicherweise habe ich laut Saima nicht allzu viele Unreinheiten, sodass die Tränen schnell wieder trocknen. Nach dem Desinfizieren gönne ich meinem Gesicht den Inhalt einer Ampulle mit Lifting-Effekt, dann kommt eine durchblutungsfördernde Massage mit einem Öl, das Aloe Vera und Avocado enthält.
Die Fingernägel der Kund:innen im Übungssalon bekommen einen neuen Anstrich.
“Soll ich die Nägel farblos lackieren”, fragt Marwa. Ich nicke und brumme zustimmend. Mehr wird glücklicherweise nicht von mir erwartet, denn zum Reden bin ich mittlerweile viel zu entspannt. Auch das Geräusch des Fräsers, mit dem Angelika meine Fußsohlen bearbeitet, kann mich nicht mehr in Schrecken versetzen. Ob das wohl an der beruhigend wirkenden Packung liegt, die Saima gerade mit einem Pinsel auf meinem Gesicht verstreicht? Ich liege da, denke an nichts mehr, nicht an Zahnbehandlungen, nicht an Operationen oder Science-Fiction-Filme und vor allem nicht mehr an das, was ich heute noch alles machen soll.
Mit ihrem zarten Duft nach exotischen Früchten holt mich die Tagescreme, die Saima zum Abschluss der Gesichtsbehandlung aufträgt, auf sanfte Weise in die Realität zurück. Auch Füße und Hände haben eine pflegende Cremeschicht bekommen. Stück für Stück lege ich wieder an, was ich vor Beginn von Gesichtsbehandlung, Maniküre und Pediküre abgelegt habe. Doch obwohl es dieselben Schuhe sind, ist in ihnen auf einmal viel mehr Platz, die Zehen freuen sich über jede Menge Raum, und als ich aufstehe und durch den Raum gehe, fühlt es sich fast wie Schweben an.
Auch meine Hände und Finger scheinen leichter und zarter geworden zu sein. Und besonders toll ist, dass sich der Effekt keineswegs auf die Oberfläche beschränkt, sondern eindeutig unter die Haut geht. Ich fühle mich entlastet und entspannt und merke erst jetzt, wie gestresst ich bei meiner Ankunft hier war. Wohlfühlpaket? Oh ja, stimmt. Saima, Marwa und Angelika haben sich ein Trinkgeld redlich verdient. Und ich freue mich schon auf meine nächste Auszeit hier.
Im ipcenter werden Lehrlinge in verschiedenen Berufen ausgebildet. In den Übungssalons (körpernahe Dienstleistungen) und Übungslabors (Augenoptik, Hörakustik) in der Breitenfurter Straße 111/113 in 1120 Wien sind Interessierte aus dem Umfeld der Ausbildung willkommen: Gegen einen Materialbeitrag erhalten sie vollwertige Beratungen und Behandlungen und unterstützen dabei die angehenden Fachkräfte beim Ausbau ihrer praktischen Erfahrung. Und wenn dann die Lehrabschlussprüfung vor der Tür steht, freuen sich die Absolvent:innen über Modelle, die sie zur Prüfung begleiten und bereit sind, sich vor einer Kommission behandeln zu lassen.
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